Reformation – besonders aus nachaufklärerischer Sicht – ist immer auch die große Entzauberung der Welt, in deren Konsequenz Menschen und ihre Körper profanisiert wurden. Der von der Volkskundlerin Waltraud Pulz im Jahr 2013 herausgegebene Sammelband lässt demgegenüber entdecken, dass es jenseits von Herz und Gewissen als den dramatischen Orten des inneren Menschen in reformatorischer Theologie, der Körper selbst die Dramaturgie der Heiligkeit entfesseln lässt. Während in reformatorischer Theologie das einzige Wunder der Einfall der Gnade Gottes zu sein scheint, schaffen es die zehn Beiträge des Buches den Blick zu weiten auf eine Welt, die Wunder setzt und voraussetzt. Stigmata, Nahrungsabstinenz, Ekstase werden als Phänomene dargestellt, die allesamt aufzeigen wie sehr inneres Geschehen und äußerer Vollzug in religiöser Praxis kulturgeschichtlich gesehen gerade zusammengehören. In vier Abschnitte gegliedert (1. Modelle und ihre Modifikation – Ausdrücklichkeit der Zeichen; 2. Dimensionen des Körperinneren – Eindringlichkeit der Zeichen; 3. Zeichen der Heiligkeit heute – Ethnologische Perspektiven; 4. Fromme Leiber – Medizinische Perspektiven) machen die Beiträge deutlich, dass innerhalb der vorgestellten kulturellen Kontexte die eben genannten Phänomene alle eins gemein haben: durch diese Phänomene wird der Körper zu einer Spur. Der Körper präsentiert nicht mehr, sondern er repräsentiert. Der Körper wird zu Repräsentation eines abwesenden Gottes, der in der Signatur der Heiligkeit der Körper eine Spur hinterlässt.
Diese Entdeckung geht mit einer weiteren einher, die der Sammelband in der Mehrzahl der Beiträge offen legt: Es sind vorwiegend Frauen, deren Körper zum Ort der Inkarnation des Göttlichen wird. Die Frauen lassen ihren Körper zur Spur des abwesenden Gottes werden. Die Vergöttlichung des Fleisches gründet auf eine heteronome Beziehung zum Göttlichen, die zugleich Freiheit verbürgen kann für die Frauen. In der Unterschiedlichkeit der Stimmen der Autoren und Autorinnen bleibt dennoch der einhellige Tenor bestehen, dass es zwar das Individuum ist, das einen Körper hat, aber es ist Körper in den Augen einer sozialen Kultur, in Funktion zu ihr und entsprechend den von ihr gesetzten Modalitäten. Was immer über Körper und Heiligkeit zu erfahren ist, wird also bestimmt durch die gesellschaftlich-kulturellen Voraussetzungen.
Mit diesem Sammelband liegt eine historisch und kulturwissenschaftlich verantwortete Phänomenologie der körperlichen Zeichen der Heiligkeit vor, die vor allem dadurch besticht, dass sie diese Zeichen der einseitigen Dichotomie von frommer „imitatio“ und betrügerischer „simultatio“ entzieht. Durch die jeweiligen Kontextualisierungen in den einzelnen Aufsätzen werden anschaulich die lebensweltlichen Kontexte mitbedacht. Ohne Berührungsängste bringt der Sammelband von Pulz Heiligkeit und Körper auch als ein Thema für den Geschlechterdiskurs (auch in der Theologie) zur Sprache. Ein Thema das noch auf seine theologische Aufarbeitung wartet.
W. Pulz (Hrsg.): Zwischen Himmel und Erde: Körperliche Zeichen der Heiligkeit (Beiträge Zur Hagiographie 11), Stuttgart 2012.
227 S., 23 s/w Abb.
Kartoniert
ISBN 978-3-515-10283-4